Es wird Zeit, noch ein paar Geheimnisse des anderen Kontinents zu enthüllen. Homecoming ist eine typisch amerikanische Tradition an allen Schulen. Nach einer Woche unterschiedlicher Veranstaltungen gibt es eine Parade zur Begrüßung Ehemaliger. Es könnte also als eine Art Klassentreffen bezeichnet werden, welches von den jüngeren für die älteren Schüler vorbereitet wird. In Watertown hieß diese heißgeliebte Woche Ki-Yi-Week.Montag war „ugly sweater“ Tag und der Dresscode versprach alte, unmoderne Stricksachen. Am Abend wurde von Schülern für die Öffentlichkeit die „legend“, also die Hintergrundgeschichte von Ki-Yi vorgespielt. Zwei einstmals verfeindete Völker begruben das Kriegsbeil und vereinigten sich: Ki und Yi. Auf der Bühne mischten sich symbolisch die Gelben mit den Violetten. Hier sagt man gold und purple und hält diese Farben für das örtliche Footballteam in Ehren. Kein Baby und kein Rentner in Watertown, der nicht mindestens ein Kleidungsstück in gelb-violett besitzt!
Am Dienstag sah es aus wie Fasching, als die Schüler zum „Famest Person Day“ in die Rolle einer bekannten Person schlüpften. Mein Lieblingstag war der Mittwoch, „Nerd Day“. Manchen Schüler habe ich nicht wiedererkannt, weil er sich in einen perfekten Strebertypen verwandelt hatte: gegelte Haare, zu kurze Hosen, Hosenträger, zerbrochene Brille. Für die Kleidung am Donnerstag in „Class Colors“ hatten sich viele Schüler bereits Tage zuvor extra T-Shirts gefärbt oder bedrucken lassen. Nun konnte man erkennen, wer in welche Klassenstufe ging: freshmen/9.Kl.=grün, sophomores/10.Kl.=blau, juniors/11.Kl.=rot und seniors/12.Kl.=schwarz.
Am Abend spielten im Stadion schwarze gegen rote Mädchen Football und die Jungs agierten als Cheerleader. Im Anschluss an das wenig ernste sportliche Ereignis traten Ehemalige in Aktion, z.B. eine Elternband. Höhepunkt war für mich der Auftritt der Schulband. Man stelle sich ca.60 uniformierte Musiker marschierend auf einem Spielfeld vor, dirigiert von 2 Schülern. Im Anschluss gab es ein Feuerwerk und das „burning w“. Als Zeichen für die Stärke der „w“atertown-Mannschaft am Freitag wurde der überlebensgroße Buchstabe zum Brennen gebracht.
Am Freitag war der planmäßige Stundenrhythmus außer Kraft gesetzt und die Stunden alle stark verkürzt, damit am Mittag die „pep show“ und die „parade“ starten konnten.
Da dies mein letzter High School Tag war, bedankte ich mich bei den Kunstlehrern und „meinen“ Schülern mit kleinen Geschenken und einem Vortrag über Dresden. Das Interesse war groß und wir nutzten jede Minute, um noch Fragen zu beantworten. Ich war ganz schön traurig, dass ich gerade jetzt Abschied nehmen musste und die Abschiedskarte der Zeichenklasse rührte mich geradezu. Auch die Schüler hätten mich gern das ganze Jahr behalten.Äußerlich waren Lehrer und Schüler heute nicht zu unterscheiden. Alle trugen Gelb-Violett. Mir hatte Jakob ein gelbes Batikshirt geschenkt.
12 Uhr startete in der Sporthalle das „pep fest“.Eine Stunde mit Comedy, Spielen und Tänzen gestalteten die Schüler völlig allein. Die gewählten Prinzenpaare kamen zum Schluss auf Quads in die Halle gefahren und wurden gefeiert. Sprechchöre sind eine ganz alltägliche Sache bei Sportveranstaltungen, Watertown hat sogar ein eigenes Lied.Hier habe ich Lokalpatriotismus live erlebt und muss sagen, dass es mich sehr beeindruckt hat. Vor der Parade wurden alle geschmückten und bemalten cars und Anhänger auf dem Parkplatz vor der Schule eingewiesen. Die Lehrer arbeiteten in der Jury (schönstes Auto wählen) oder waren als Fahrer eingeteilt. Schülergruppen, die mit einem Auto teilnehmen wollen, müssen zuvor einen Lehrer als Fahrer werben. Die ausgelassene Stimmung zur Parade dient ansonsten nicht gerade der Verkehrssicherheit. Durch aufgeschnittene Autodächer zählt man viel zu viele Insassen, die durch rhythmisches Springen die Karosse gefährlich zum Wippen bringen.Alles begleitet von schallender Musik aus jedem Gefährt. Die rostigen, oft uralten Fahrzeuge würden in Deutschland nie eine Zulassung erhalten…
14 Uhr startete der Umzug schließlich mit dem perfekten Spiel der beiden Big Bands. Sowohl High als auch Middle School hatten seit über 2 Wochen unermüdlich geprobt. Manchmal habe ich auf meinem Weg zur Schule früh mit dem Fahrrad am Sportplatz ein Stopp eingelegt, um den enthusiastischen Musikern beim Marschieren und Schritte zählen zuzusehen. Ohne Murren erschienen sie tagelang eine Stunde vor Unterrichtsbeginn zum Proben in der Kälte. Nun liefen sie in ihren strahlenden Uniformen (natürlich gelb-violett)an mir vorbei. Die gesamte Stadt war auf den Beinen um mitzufeiern. Die 1958er Abschlussklasse bat mich um ein Foto.Sie hatten vor 50 Jahren die High School beendet und sogar ihr norwegischer Austauschschüler von damals war gekommen. In der Stadt traf ich viel bekannte Gesichter und wurde stets Eltern, Kindern und Geschwistern vorgestellt.Das gab mir das Gefühl, hier aufgenommen worden zu sein und in gewisser Weise dazuzugehören.Ich war nicht als Tourist hergekommen, sondern als Kollege. Manchen Lehrer habe ich nur beim Mittagessen getroffen, über deutsches Essen,Erziehungsansichten,Football und die Schulpolitik geschwatzt. Der eine schenkte mir seinen Eisshake (ja, sowas gibts zum Mittag in der Schulspeisung), die andere meinte, mein deutsches Rotkraut würde so verdammt gut riechen. So war mein Abschiedsgeschenk für diese Runde eine Schüssel handgeschnittenes Rotkraut zum Kosten,dazu das Rezept in Englisch.
Am Abend erhielt ich beim großen Footballmatch von Rich eine Einweisung in die wichtigsten Regeln. Unsere Arrows (Pfeile) mussten gegen die Tiger kämpfen. Erst in der Verlängerung gewannen wir knapp und die Stimmung war euphorisch.
Rückblickend kann ich feststellen, dass alle Befürchtungen, an der fremden Schule oder mit der fremden Sprache nicht zurechtzukommen, überflüssig waren. Ich wurde so herzlich und voller Offenheit aufgenommen, dass ich mich jede Minute wohlfühlte.
In der Presse fand ich einen Artikel, in dem die Süddakotaer als angenehmste Menschen aller US-Staaten bezeichnet wurden. Mein erster Aufenthalt im riesigen Amerika hat mich wohl in den richtigen Staat gelotst.
Ich kann nicht behaupten, Amerika zu kennen. Ich habe nur Süddakota und Minnesota erlebt und dort die Freundlichkeit und das Interesse der Menschen gespürt.
Mitnehmen würde ich: die Gelassenheit, die Freude am Tun,etwas Patriotismus, die Hilfsbereitschaft, die Offenheit,die Verkaufskultur, die musische und sportliche Ausbildung an der High School,die Benzinpreise, den Respekt der Schüler, Automatik-Autos, Cookies und den genialen 4 -Way-Stop (Kreuzung mit 4 Stoppschildern/wer zuerst kommt, fährt zuerst).
Dalassen würde ich: fettfreie Milch und Joghurt, Aircondition,die kurze Babypause (nur 6 Wochen), Bewegungsarmut, Gewaltfilme im Vorabend-TV und Telefone im Klassenzimmer. Bestimmt habe ich nicht an alles gedacht. Wie das beim Packen so ist, irgendwas vergisst man immer.
Zeitgleich zu diesem letzten Bericht über meine Reise werde ich noch ein Fotoalbum in die Galerie laden: „Schlussakkorde“.
Aber keine Angst, mit dem Blog ist noch lange nicht Schluss. Vor Weihnachten gibt es sicher Fotos aus Venezuela.Gemeinsam mit meinem Liebsten fahre ich zu deutschen Freunden, die im „Land des Kommunismus des 21. Jahrhunderts“ arbeiten.
Was man dort „mitnehmen“ oder „dalassen“ würde, fragt sich voller Neugier
Kerstin
Der Abschlussbericht ist nochmal ein ladeskundlicher Paukenschlag!!!
Danke, dass du uns an deinen Erlebnissen teilhaben lässt
sagt die Veli
Spannender kann kaum ein Reisebericht auf arte sein. Wir freuen uns sehr, dass du das alles erleben konntest und uns davon mitteilst.
Auch für dich machst du die Zeit in Amerika – unvergesslich.
Bis bald.
Viele liebe Grüße aus der Metropole senden dir
Silke und Eric