Eine Zugfahrt, die ist…

Man muss wirklich nicht um die halbe Welt reisen, um eine verrückte Zugfahrt zu erleben.
Dritter Dezember, Dresden-Hamburg, sechs Uhr morgens, Wagen acht.
Auf meinem Platz sitzt Einer, hat die Schuhe ausgezogen und die Füße hochgelegt.
Das ist mir egal, er ist nett und ich setze mich gegenüber hin, weil genug Plätze frei sind.
Die Anzeige der Bahn stimmt ohnehin nicht. Dafür, dass ich vier Euro für die Reservierung bezahlt habe, wird mein Sitz als frei angezeigt. Immerhin hat die Zugbegleiterin gute Laune.
Draußen ist es noch finster, um mich herum einige schlafende Herren und eine muntere Dame, welche ein Manuskript durcharbeitet.
Cappucchino? Nein, danke.
Zwei Seniorenpärchen steigen zu, suchen ihre Plätze. Bereits beim Hinsetzen übernehmen die Weiblichkeiten die Unterhaltung des Abteils. Meine Schwiegertochter ist auch über 50 und arbeitet viel zu viel. Sie darf keinen Fehler machen mit den ganzen Gehaltsabrechnungen. Immer macht sie Überstunden. Es gibt nur noch zwei Vollzeitstellen dort. Sag mal, Herbert, fahren wir mit Diesel oder elektrisch? Elektrisch.
Ich lege mein Magazin zur Seite. Einen Artikel habe ich geschafft: „zehn arten, wie man in einer situation sterben kann“ von Kirsten Fuchs. Sehr witzig! Aber ich sitze im Live-Studio.
Die Dame mit dem Manuskript eröffnet das Telefonforum mit der Volkssolidarität um einen Pflegeheimplatz für ihren Onkel. Er stürzt ständig, kann sich nicht allein Essen kochen. Und dann die Körperhygiene. Sie wissen doch, dass er stark übergewichtig ist. Wie soll das funktionieren, wenn er mit seiner Hand nicht an den Allerwertesten kommt? Am Sonntag wird er aus der Kurzzeitpflege bei Ihnen entlassen. Wie soll das weitergehen?
Wer privat versichert ist, den kann die Volkssolidarität nicht aufnehmen, erfahre ich. Aha. Reisen bildet!
Die meisten Herren um mich herum schlafen nun nicht mehr und wir tauschen vielsagende Blicke. Eventuell hatten wir alle gleichzeitig das Bild vom dicken alten Herren mit heruntergelassener Hose und zu kurzen Armen vor unserem geistigen Auge.
Kaffee? Nein, danke.
Berlin Spandau. Neue Leute steigen ein. Da wird der letzte Schläfer plötzlich munter, stürzt hektisch durch den Gang zur Tür, verliert seinen Mantel, bekommt ihn zugereicht und verlässt den Zug glücklich im letzten Moment. Die wacklige Omi, die mit ihrem Gatten die Sitze neben mir belegt, findet das Handy ihres Vorgängers auf dem Sitz. Zu spät. Ich will ihr den Koffer in die Gepäckablage heben, doch sie hat Angst, dass ihn in Sylt keiner wieder herunter holt. So sitzt sie kerzengerade mit Koffer zwischen den Knien am Tisch. Ich bewundere sie fast dafür, diese anstrengende Haltung bis Sylt durchhalten zu können.
Was wohl alles im Köfferchen ist?
Eine Viertelstunde später erfahre ich, was NICHT darin ist: die Unterhemden für den Gatten.
Was willst du dann anziehen?
Er deutet brav auf sein kariertes Hemd und den wärmenden Pullover darüber.
Die waren alle frisch gelegt! Was willst du dann anziehen?
Ohne Regung im Gesicht wiederholt er leise: Na das, und zupft am Hemdkragen.
Die waren alle frisch gelegt.
Sein Blick wandert nach draußen.
Die waren alle frisch gelegt.
Ich häkle eine Mütze für einen Zwölfjährigen und da das Muster einfach ist, kann ich die Wiederholungen des Hemden-Mantras mitzählen. Sechsmal: Die waren alle frisch gelegt. Leider erfahre ich nicht, um wie viele es sich handelte, denn die Schaffnerin kommt und die Unterhemdenlegerin gibt das gefundene Handy ab.
Draußen fliegt der Nebel vorbei.
Da die Schwiegertöchterstorys endgültig erschöpft sind, tauscht die Altherrenriege technische Details aus. Auf dieser Strecke wurden vor dem Krieg erstmals Doppelstockwagen eingesetzt. Sechziger Baureihe. Aha. Reisen bildet.
Doch sofort beteiligt sich eine der Ehefrauen an der Diskussion und weiß zu berichten, dass eine ihrer Freundinnen dereinst von Riesa bis Gröditz beim Lokführer mitfahren durfte. Die war vielleicht stolz.
Auch mit der Gefahr, etwas Bildung zu verpassen, laufe ich zum Speisewagen, um mir einen Tee zu holen.
Dafür muss ich etliche Wagen passieren und fühle mich beim Hinausschauen wie auf einem superschnellen Laufband im Flughafen. Einsteins Relativitätstheorie. Welche Geschwindigkeit hat der heiße Tee in meiner Hand? Der Bordcomputer hilft mir weiter. Wir fahren gerade 195 kmh, 198, 197…
Ich verweile vor meinem Wagen und nehme mir vor, aufs Display zu starren, bis mein Tee mit mir gemeinsam 200 kmh erreicht hat. Geschafft! Mit den letzten Schritten sind mein Getränk und ich über 200 kmh schnell. Wir sind nicht angeschnallt, aber mein Tee hat wenigstens einen Plastehelm auf. Den Gedanken, was bei einem frontalen Zusammenstoß geschehen würde, verfolge ich dann doch nicht weiter.
Die Mütze ist fertig. Schwarz mit Neonrot.
Die „Analphabetin, die rechnen konnte“ packe ich ungelesen in den Rucksack.
Hamburg.
Nach knapp fünfstündigem Kammerspiel.
Nach über einem Viertel Jahr darf ich gleich Lotti in die Arme schließen.
Wenn das kein Happy End ist!

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