Einmal Amsterdam und zurück – Eine Zugfahrt, die vierte

Richtung Coffeeshop
Das wohl Aufregendste an dieser Reise geschieht diesmal vor Fahrtantritt.
Bepackt mit kleinem Rucksack und Umhängetasche fahre ich morgens ganz gemütlich mit dem Bus zum Schillerplatz. Der Komfort des Reisens steigt mit der Minimierung des Gepäcks. Im zivilisierten Europa kann man beim Einpacken vieles vergessen und kommt trotzdem gut voran. Man wird nicht verhungern, nicht erfrieren und ich hätte sogar den Personalausweis zu Hause vergessen können. Niemand wollte ihn sehen. Das ist noch immer ein überraschendes Gefühl, wenn man die ersten Reisen seines Lebens als DDR-Bürger erlebt hat.
Auf dem Wochenmarkt am Schillerplatz steht ein Fischverkaufswagen mit der Aufschrift:
„Piranhas fressen Menschen. Wehrt euch. Esst mehr Fisch!“
Kurz darauf entdecke ich einen neuen Müllbehälter an der Haltestelle, der dem Sprachrohr eines Schiffes ähnelt. Cooles Design, wahrscheinlich können hier die Vögel den Abfall nicht herausholen.
Acht Minuten Umsteigezeit reichen locker, um einen großen heißen Tee für den Weg zu kaufen. Einsfünfzehn. Ein sehr fairer Preis, finde ich.
Dreiviertel Sieben sitze ich in der Bahn Richtung Neustädter Bahnhof, schlürfe meinen Tee und werde jäh aus meiner morgendlichen Träumerei gerissen.
„Aufgrund einer Störung am Sachsenplatz verkehrt die Linie sechs….“Arrrgh!
Die Bahn hält, wir steigen aus und eine junge Frau mit Rollkoffer fragt hilflos, ob denn eine andere Verbindung zum Bahnhof bestünde. Ich schlage ihr vor, gemeinsam loszulaufen und währenddessen ein Taxi zu ordern. Wir stapfen los. Ein Blick auf meine Uhr bringt mir die Erkenntnis, dass die Strecke bis zur Zugabfahrt zu Fuß nicht zu schaffen ist. Sie telefoniert und erhält keine Verbindung. Ich wähle achtmaldieacht und bin in der Warteschleife. Dann die freundliche Auskunft, dass in 15 Minuten ein Taxi bei uns sein könne. Dankend muss ich ablehnen, denn das dauert zu lange. Während ich für drei Leute die Zugfahrkarte einstecken habe, muss sie zum Flughafen und hat noch weniger Zeit als ich. Plötzlich überholt uns die Bahn, aus welcher wir vor einigen Minuten ausgestiegen waren. Wir rennen zur Haltestelle, kurzentschlossen lasse ich meinen halben Tee am Straßenrand zurück. Neue Durchsage und Entschuldigung für die Fehlinformation. Noch während sich unsere Gesichtsmuskeln vor Erleichterung entspannen wollen, folgt der Nachsatz über die erneute Umleitung.
Eine Haltestelle vor dem Sachsenplatz springen wir wieder raus. Vielleicht kann man per Anhalter bis zum Bahnhof gelangen? Meine Hand winkt, das leere Auto fährt vorbei und die Fahrerin würdigt uns keines Blickes. Ach, wäre ich doch jetzt auf einer einsamen neuseeländischen oder australischen Straße! Da würde es reichen, mit Gepäck unterwegs zu sein und man müsste nicht mal winken. Am Sachsenplatz gibt es einen Taxistand, vielleicht auch noch ein freies Taxi? Vor mir beginnt ein Mann schneller zu laufen. Da verfalle ich in Trab, verspreche meiner Leidensgefährtin, am Taxi auf sie zu warten und überhole den Herrn. Nicht ohne ihn zu fragen, ob wir gemeinsam zum Neustädter fahren wollen. Er stimmt freudig zu und kurz darauf sitzen wir zu dritt schnaufend im Auto. Die junge Frau sieht ihr Flugzeug schon starten, auf den Herrn warten 15 Mann in Leipzig und ich möchte gern mit zwei weiteren Personen den Zug nach Amsterdam schaffen. Der Taxifahrer hat verstanden und gibt sein Bestes. „Aber nicht schneller, als die Polizei erlaubt“, meint er fröhlich. Der könnte bestimmt auch jeden Tag was Interessantes auf seinem Blog veröffentlichen, stelle ich mir vor.
Meine Freundin zückt gerade das Handy, als ich die Bahnhofshalle erreiche. „Das ist so untypisch für dich“, meint sie und ich nicke.Fünf Minuten später sitzen wir im rollenden Zug. Ich bin putzmunter. Der Adrenalinkick hat gewirkt.
Ein paar Herren neben uns unterhalten sich darüber, welche Medikamente man in Tschechien frei kaufen kann und was man aus Efidril und Hustensaft so herstellen könnte. Sind das schon die Vorboten, weil wir in die Stadt der Coffee-Shops reisen?
In Leipzig-Halle eine Ansage: „Wir verabschieden uns von allen Gästen, die hier aussteigen möchten und müssen.“
Aha. Das ist wohl wahr. Wir möchten erst in Hannover umsteigen und bleiben sitzen.
Später lässte sich ein schlanker junger Mann am Tisch neben uns nieder, hantiert mit Handy, Laptop und dickem Ordner. Telefoniert in den Erbschaftsangelegenheiten seiner Mutter. Schaut unruhig hin und her.
Die nächsten Telefonate handeln von Sport, Liga und Wäsche. Wir passen auf seinen Laptop auf, er kommt wieder und sagt: „Die verbotene Stadt – Braunschweig.“ Unsere Blicke vermelden ihm Unwissen und er erläutert: „Ganz viele Rechte hier, beim Fußball.“ Da kenne er sich aus.
Hinter ihm durchs Abteilfenster lese ich ein Schild: Braunschweig – Stadt der Zukunft.
In Gedanken versuche ich ein Wortspiel : Braun? Schweig!
Vielleicht ist seine Stigmatisierung dieser Stadt genauso ungerecht wie Dynamo Dresden mit einer Nazishochburg in Verbindung zu bringen.
Egal, die Diskussion ist eröffnet, nachdem er erfährt, dass wir nach Amsterdam wollen. Da er mehr redet als wir, können wir schon bald ein interessantes Profil von ihm erstellen:
27-jähriger Kampfsportler mit eigenem Büro, absolut coole Mutter, die mit 61 nochmal nen Joint geraucht hat und sowieso immer sehr liberal gegenüber Drogen war. Er empfiehlt uns das Greenhouse in Amsterdam, wo man viel über Drogen erfahren kann. Zum Beispiel könne man das Glaukom damit heilen. Alkohol, der deutsche Teufel, sei tausendmal schlimmer als Marihuana. Er mache aggressiv und unzurechnungsfähig. Haschkekse seien auch schwer einzuschätzen, deshalb empfehle er uns die neueren Inhalatoren, bei denen der Tabak nicht verbrannt wird. Er erzählt dies immer mit einem Blick auf den ohrverstöpselten Sohn meiner Freundin, der uns gegenüber sitzt. Dieser jedoch hat längst die Lautstärke auf Null gesetzt und verfolgt interessiert die Erklärungen. Das Rotlichtviertel  dürften wir nicht versäumen. da gäbe es auch ganz alte Prostituierte und Schwangere. Habe er selbst gesehen. Dann holt sich unser Drogensachverständiger ein Bier, öffnet es schmunzelnd und sagt: „Teufel Deutschland.“
Nachdem er sich verabschiedet hat, analysieren wir zwei Mamas noch eine Weile diesen interessanten Fall. „Hast du seinen Blick gesehen?“ – “ Klar, der hatte was genommen.“ – “ Ob seine Mutter tot ist?“
Aufenthalt in Hannover. Eine halbe Stunde davon verbringen wir im Buchladen. Schließlich bekommen wir noch Em-Eukal-Hustenbonbons von einem Promoter geschenkt, welcher gerade heftig niesen muss. Wir empfehlen ihm, doch mal seine eigenen Sachen zu probieren.
Im nächsten Zug wirds holländisch. Diese Sprache ist einfach lustig und besonders als Sachse kann man eine Menge übersetzen:
Verboden toegang voor onbevoegden! (oe wird wie u gesprochen)
Treinsamenstellingen (train kennt man aus dem Englischen)
Rookzone (nicht Rock sondern Rooch ist gemeint)
Und schwuppdiwupp sind wir da und stehen in einem gigantischen Renaissance-Bahnhofsgebäude.
Amsterdam Centraal!

Richtung deutsche Ordnung
Fünf Tage später sitzen wir mit unseren Erinnerungen wieder im Zug. Ab Amsterdam gut gefüllt mit Reisenden aller Herren Länder. Entsprechend das Sprachengewirr um uns herum. Zwei Meisjes vergessen über ihrem Gespräch fast das Aussteigen und der holländische Kontrolleur ist lustig.
Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich so fröhlich? – klingt mir Hermann van Veen im Ohr.
Die Lockerheit schwindet leider proportional zu unserem Abstand von unserem Urlaubsziel.
Der deutsche Kontrolleur ist ein waschechter Hardliner. Schon sein Aussehen! Stellt euch den Zwerg in der Bank bei Harry Potter vor. Zuerst müssen die Koffer aus dem Fluchtweg geräumt werden, obwohl wir nur noch sieben Personen im Waggon sind. Folgsam wuchtet der junge Herr seinen Riesenkoffer auf die Gepäckablage in die Höhe. Wenn mich dieses Gewicht je treffen sollte, brauche ich keinen Fluchtweg mehr.
In seiner Kontrollwut veranlasst Mister Akkurat eine Frau, ihr Klapprad zwischen die Sitze zu pressen und will im Vorbeigehen das Ladekabel des jungen Herrn aufsammeln, weil es vom Sitz gerutscht war, als Besagter den Koffer wegräumen musste. Wir Passagiere verdehen nur noch die Augen und werfen uns vielsagende Blicke zu, wenn der Ordnungshüter wieder im Anmarsch ist und nach neu Zugestiegenen giert.
Die letze Episode auf unserer Rückfahrt ist ein warmherziges zweisprachiges Familienspiel. Eine französisch sprechende junge Mama setzt sich mit ihren drei blonden Mädchen um einen Tisch und startet ein Ratespiel. Sie fragt auf Französisch und die Kinder, etwa zwischen sechs und elf Jahre alt, antworten auf Deutsch. Wer gewonnen hat, bekommt etwas Chocolate. Dann liest sie ein Kinderbuch auf Französisch vor und die Älteste übersetzt den jüngeren Schwestern. Es ist eine Freude, heimlich zuzuschauen und zuzuhören.
Die Zugfahrt zieht sich in die Länge, das Sitzen fällt schwer. Ich versuche mich an einigen Skizzen, um die skurrilen Körperhaltungen der eingeschlafenen Gäste einzufangen. Es ist erstaunlich, zu welchen Verrenkungen ein Mensch nach einem Tag Zugfahrt in der Lage ist.

Kurz vor Mitternacht ist es endlich vollbracht. Nachdem wir den Irrgarten vom Bahnsteig in die Bahnhofshalle gemeistert haben, steht mir nur noch eine Straßenbahnfahrt bevor. Wie ein Überfallkommando gehen in Linie 6 um Mitternacht FÜNF Kontrolleure gleichzeitig ans Werk, die Schwarzfahrer zu finden.
Ich zücke meine Fahrkarte und wundere mich über nichts mehr.
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