635 Kilometer plus x.
Hamburg – Dresden .
Neun Tage allein auf dem Rad.
Wunderbare Erfahrung!
Wer jetzt ungläubig den Kopf schüttelt, den kann ich sogar verstehen. Hätte mir selbst vor nicht all zu langer Zeit kaum vorstellen können, tagelang allein unterwegs zu sein. In Australien und Neuseeland reifte letztes Jahr das Gefühl, sich nicht einsam fühlen zu müssen, wenn man allein reist. Warum sollte dies in Deutschland nicht genauso möglich sein?
Deshalb fragte ich bei einigen Couchsurfer-Gastgebern (=hosts) an und fuhr ansonsten ins Blaue, um vor Ort nach einer Unterkunft zu schauen.
Eins
Nach einem gemütlichen Frühstück bei meiner Tochter startete ich freitags nach dem Mittag in Hamburg.
Auf Anraten meines Sohnes war ich technisch sogar mit einer Navigations-App ausgestattet. Nachdem ich eine gefühlte Stunde etwas orientierungslos durch Hamburg-Barmbek geradelt bin, fand ich den gesuchten Fluss und damit auch die ersten tollen Landschaften am Elbdeich.
Als Technik-Skeptikerin hatte ich noch immer Angst, meine Navigation könne ausfallen oder der Akku des Smartphones wäre vor Ankunft plötzlich leer und ich könne meine Gastgeber nicht mehr anrufen. Deshalb fuhr ich gleich mal 60 km in drei Stunden. Pausen gabs quasi nur an roten Ampeln. In Hohnsdorf/Lauenburg empfing mich Anja mit Tee, Kuchen und einer qualmenden Feuertonne. Direkt hinterm Deich versteckt durfte ich in einem liebevoll gestalteten Gutshaus einziehen, kochte für meine Hosts Fischsuppe und saß bis Mitternacht mit ihnen am Feuer.
Zwei
Morgens gabs selbstgebackenes Brot zum Frühstück.
Mit super Laune schwang ich mich in den Sattel, um durch nebelverhangene Wiesen zu radeln, Störche und Schafe zu treffen und einfach allein zu sein. Bei 5 Grad freut man sich, dass alle eingepackten Sachen ihre Berechtigung haben, wie z.B. Handschuhe, Stirnband und Skiunterhemd. Doch bald gabs Sonne und bei 13 Prozent Steigung am Kniepenberg kam ich mächtig ins Schwitzen. Dafür erwartete mich ein Aussichtspunkt mit Holzturm mit Blick aufs Elbtal. In Hitzacker setzte ich mich mit einem Latte beim Bäcker zu den Rentnern, schwatzte mit ihnen und fand das schon völlig normal. Ist man allein unterwegs, kommuniziert man viel gelassener. Man wird natürlich auch öfter angesprochen. Abends in Gorleben hatte ich stolze 85km in fünf Stunden absolviert und mietete mich im Kaminstübel ein. Ja, das Gorleben – Castor usw.
Aber an diesem Abend interessierten mich vorwiegend die Dusche und die Speisekarte. Buttertriefende Bratkartoffeln und Hausmachersülze, dazu eine Rhabarberschorle, umfallen und schlafen.
Drei
Am Frühstückstisch schenkt mir ein älterer Herr seinen Joghurt. Wir sind die einzigen Radler in der Pension und tauschen uns über Strecke und Sehenswürdigkeiten aus. Der Wirt empfiehlt mir, einmal Richtung Endlager und einmal Richtung Elbaue zu fahren, um mir ein reales Bild von Gorleben zu machen. In der Tat ist die Landschaft wunderschön, die gelben Kreuze an den Grundstücken machen nachdenklich und schließlich bringt mich meinen Neugier an den Grenzradweg. Mitten im Nirgendwo hab ich kein Internet mehr und das dumme Gefühl, im Kreis zu radeln. Ein paar Camper im Wald weisen mir hilfreich den Weg. Im Storchendorf Rühstedt gönne ich mir frischen Spargel und zähle 48 Störche, während ich aufs Essen warte. In Havelberg habe ich mein Tagesziel erreicht, annähernd 90 km hinter mir und finde eine fahrradfreundliche Unterkunft und ein Bilderbuchcafe´. Dort setze ich mich auf den vorletzten freien Platz und habe neben superleckerem Essen aufgeschlossene Tischnachbarn aus Berlin neben mir: eine Lehrerin und einen Arzt, ebenfalls mit den Rädern unterwegs.
Vier
Der Wind vom Vortag hat so zugenommen, dass die jungen Leute an unserem Frühstückstisch überlegen, einen Tag auszusetzen. Mir war das nicht bewusst, da ich in die Gegenrichtung fuhr.Es sieht zudem nach Regen aus und den ersten Guss überstehe ich trocken bei der Besichtigung des Domes. Bei Sonnenschein trete ich dann in die Pedalen und muss vor der Gierseilfähre in Sandau vom Rad springen. Sturmböen drohen mich umzuwerfen und Sand weht mir in die Augen. Der Fährmann lacht, als ich endlich mein Rad aufs Boot schiebe. Ob es auf der anderen Elbseite ruhiger wird, kann er mir nicht verraten. Bald weiß ich Bescheid: heftiger Seitenwind, aber man kann das Gleichgewicht halten. In Arneburg Mittagspause, die Gaststätte auf der Burg hat Ruhetag, bietet mir aber eine verglaste Veranda mit sonnigem Ausblick auf Elbe und Rapsfelder. Ich packe meine Verpflegung aus (meist Apfel, Banane, Wasser und Nüsse), schreibe Postkarten und fotografiere.Weiter gehts. Der Sturm war längst nicht alles. Es regnet noch und kurz vor meinem Ziel Tangermünde kann ich mich mit einer weiteren Radlerin beim Hagel unter eine Brücke retten.
Nach nur 43 km in der Hansestadt Tangermünde angelangt, genieße ich Sturm, Sonne und einen dramatischen Himmel als perfekte Kulisse dieses Kleinods. Fast zwei Stunden werde ich nicht müde, zu spazieren und zu fotografiere. Dann lande ich in einer SCHULE! Noch während ich mich im Museum wähne, stehe ich schon mitten in der Gaststube.
Fünf
Magdeburg heißt das Ziel heute. Dort wollen mir Günter und seine Frau Quartier geben. Ein Couchsurfer jenseits der 60, das verspricht interessant zu werden. Wird es dann auch, aber ganz anders als gedacht.
Unterwegs in der Schleuse Niegripp beobachte ich das Schließen der Tore und schaffe es gerade noch vor dem Guss, das Regencape überzuwerfen. 70 km werden es heute. Als das Navi „noch acht Minuten Fahrzeit“ anzeigt, klingelt mein Handy. Günter ist dran , beschreibt mir den Weg und meint, alles ok, er müsse nur noch mal zu Arzt. Seine Schwiegertochter und der Enkel begrüßen mich.Später kommt seine Frau Martina nach Hause. Aufregung, Sorgen und ich mittendrin. Günter hat schlimme Herzbeschwerden und muss in die Klinik, er drückt mich kurz, als er seine Sachen holt, dann ist er schon wieder weg. So beschließe ich, wenigstens das Abendbrot zu kochen. Schließlich sitze ich mit Martina, die Couchsurfing nicht so mag, bei einer Fischsuppe und wir philosophieren übers Leben.
Sechs
Am Morgen finde ich einen netten Brief, Frühstück, Alufolie zum Schnitten einpacken für unterwegs und eine Handynummer von Martina vor. Sie selbst ist schon wieder arbeiten. Draußen ist keine Wolke am Himmel, aber das Thermometer sagt: Null Grad! Egal, ich habe knapp 70 km vor mir und bin in Dessau mit Sebastian verabredet, der mich heute hostet. Unterwegs treffe ich Rehe und Bussarde. Eine halbe Stunde lege ich mich auf einem Rastplatz in die Sonne. In Dessau schließlich lotst mich eine nette Omi mit ihrem Rad in die richtige Richtung, eine weitere fragt mich vor der gerade geschlossenen Post nach einer Briefmarke. Klar, hab ich eine und will sie ihr schenken. Sie ist so glücklich, dass sie mir zwei Euro für ein Eis in die Hand drückt und keine Widerrede duldet. Zurück an meinem Rad trübt sich kurz meine Laune. Das Hinterrad hat einen Platten! Nach dem ersten Zorn entspanne ich mich aber schnell. Wie gut, dass mir das heute nicht auf dem kilometerlangen Schotterweg an der Elbe passiert ist. So schiebe ich mein Gefährt einen Kilometer, Sebastian trägt es in den Keller, wir gehen ein Bier trinken und haben jede Menge zu erzählen. Sein Pech war an diesem Tag weitaus größer! Hunderte Kilometer entfernt zum Lehrgang übernachtete er bei einem Freund. Erst nach dem Frühstück merkte Sebastian, dass er in der Wohnung seines Freundes eingeschlossen war, dieser jedoch am frühen Morgen zu seiner Arbeit aufgebrochen und ebenfalls schon 100 km gefahren war. Der Schlüsseldienst verlangte 300 €!
Sieben
Ich kam am nächsten Tag mit weniger als 50 € zu einem fahrtüchtigen Rad. dazu gabs noch Kaffee vom Chef. Da ich nun aber einen halben Tag eingebüßt hatte, änderte ich kurzerhand meine Tour ein wenig und fuhr den Mulderadweg Richtung Bad Düben. Unterwegs wurde mir plötzlich bewusst, dass ich die Orte meiner Kindheit durchfuhr. In Wolfen geboren, in Eilenburg oft bei Oma, Tante, Onkel gewesen. Mit dem Schienenbus und Omas Kaffekränzchen in die Dübener Heide gefahren. Viele kleine Orte, aber irgendwie vermisste ich eine Pension. Kurz vor Eilenburg googelte ich dann doch mal den nächsten Ort wegen einer Schlafstatt. Thallwitz, einladender Internetauftritt, aber leider ohne Telefonnummer. Hmmm. Auf gut Glück hinfahren? Hab ich nicht gemacht und am Abend mit meiner Wirtin in Eilenburg herzlich darüber gelacht. Den Gasthof gibt es längst nicht mehr, in dem Gebäude ist jetzt ein Pflegeheim! Das hätte ich nach 75 km vielleicht nicht unbedingt gebraucht.
Acht
Karfreitag, Ostereier und Regen. Heute will ich meine Heimatstadt Oschatz erreichen, wo mich mein Bruderherz erwartet. Der schickt mir erstmal eine sms, dass er mich bei dem Mistwetter in 45 min abholen könne. Ich finde es moralisch sehr unterstützend, diesen rettenden Engel zur Not anrufen zu können. Trotzdem ziehe ich Regenhose und Cape über und starte. Die Feuchtigkeit sammelt sich zunächst mehr innen als außen. Dann klatschen richtig fette Tropfen herab. Kein Mensch auf der Straße. Ich ziehe zwei Mülltüten über meine Schuhe und behalte warme, trockene Füße. Das funktioniert also gut.
Am Straßenrand parkt ein Auto. Ein alter Mann zündet eine Kerze an einem Kreuz mit Blumen an. Ob sein Sohn bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist oder seine Frau? Plötzlich fühle ich Einsamkeit. Vielleicht ist es gar nicht meine, sondern die des alten Mannes. Ich schalte die Musik ab, die mich bei den letzten Etappen so oft begleitet und vorwärtsgetrieben hat. Mir wird bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, durch die graue Landschaft zu reisen und in Kürze meine Familie gesund zu treffen.
Ich fahre durch den Ort Schwarzer Kater, telefoniere mit meinem Liebsten und wir amüsieren uns über den lustigen Namen. So ein Smartphone ist eine feine Spielerei, freue ich mich. Damit kann man telefonieren, fotografieren, im Internet surfen, Musik hören, sich navigieren lassen – wenn man nicht gerade telefoniert!
Dann schweigt nämlich die Navigatorin (Ich habe sie Janine getauft) und man fährt gedankenverloren Kilometer in die falsche Richtung weiter. Aber ich kann mich nicht aufregen. Noch vor wenigen Monaten habe ich behauptet, kein Smartphone zu brauchen und nun würde ich es nicht mehr hergeben. Janine hat mich zurückgelotst, auf sie ist Verlass.
In Oschatz beschert uns das wechselhafte Wetter einen fantastischen Doppel-Regenbogen und am Abend liegt ein Osternest auf und ein Wärmekissen unter meiner Bettdecke.
Neun
Schon liegt der Endspurt vor mir.
69 km von Oschatz nach Dresden. In Riesa kehre ich auf den Elberadweg zurück. In Meißen fühle ich mich schon fast zu Hause, obwohl noch die knappe Hälfte vor mir liegt. Beim Warten an der Ampel treffe ich Otto. Wir fahren ein Weilchen nebeneinander her, schwatzen, kehren im Biergarten ein und philosophieren schließlich bis Dresden über Solo-Radtouren. Otto ist Schlachter, geschätzte 60 und kennt nur die Dresdner Altstadt. Das muss sich ändern, denke ich und ich biete ihm eine kleine Neustadtrunde an. Er nimmt dankend an und so gehts nach einem Eis im Rosengarten zu Pfunds Molkerei und in den Kunsthof.
Erst als wir uns verabschiedet haben und ich die letzten Meter bis nach Hause rolle, fühle ich meine Erschöpfung.Da steckt nun doch ganz schön was in den Knochen.
Vor allem aber eine Menge interessante Erfahrungen:
Auf dem Elberadweg ist man nicht einsam, auch wenn man stundenlang keiner Menschenseele begegnet..
Wir Deutschen können genauso herzlich, unkompliziert und offen sein wie Australier und Neuseeländer.
Gepolsterte Radlerhosen sind eine geniale Erfindung. (Warum hab ich das nicht früher entdeckt?)
Bei Radtouren nimmt man trotz 200g Schokolade am Tag nicht zu!
Ich kann fünf km hintereinander freihändig fahren, getestet auf dem Elbdamm hinter Wittenberge.
Unplattbar Reifen sind nicht unplattbar.
Und hier nun noch die Bilder.