Ganz überraschend war ich eine Woche in Dänemark. Keiner von euch hat eine Postkarte bekommen. Meine Mission als Nanny, Chauffeur und Geburtshelfer hat mir dazu keine Zeit gelassen. Deshalb gibt es als Entschädigung nun die wunderbare Geschichte meiner Krankenhaus-Expedition nach Kolding.
Der Beginn war allerdings alles andere als wunderbar, eher sehr kritisch.
Gute Freunde erwarten ihr zweites Kind. Die werdende Mama wird in der 33. Woche mit Schwangerschaftsvergiftung ins Krankenhaus eingewiesen. Zu Hause bleiben ein vierjähriger Sohn, ein Hund und ein Ehemann, der 300 km entfernt arbeitet, mit bangen Fragen zurück .
Also schaute ich in meinen Kalender und kaufte ein Zugticket, denn Kind und Hund sind so wohlerzogen, dass ich mich auf die Spaziergänge mit ihnen am Vejle Fjord schon freute.
Die größte Herausforderung für mich war das Fahren fremder Autos. Wer mich kennt, weiß, wie ängstlich ich diese Aufgabe versuche zu vermeiden. Gleich am Bahnhof Vejle durfte ich uns nach Hause chauffieren. Im BMW Cabrio! Dank einem Uralt-Navi habe ich mich nicht einmal verfahren. Die Verkehrsregeln sind so simpel wie: Wenn kein Verkehrsschild da steht, hast du Vorfahrt.
Am nächsten Morgen düste ich mit Sohnemann zur Spielgruppe der ansässigen Kirchgemeinde und nachmittags ins 35 km entfernte Krankenhaus nach Kolding.
Die werdende Mama freute sich, ließ sich im Rollstuhl zum Kiosk fahren und spendierte uns ein Eis. Während dieses kleinen Ausflugs bemerkte ich bereits, dass dieses Gebäude im Vergleich zu deutschen Kliniken überraschend anders war. In den Gängen kamen uns Krankenschwestern auf dreirädrigen Rollern entgegen geflitzt, an der Cafeteria überholte uns jemand mit dem Fahrrad und in den Fahrstuhl fuhr ein Elektroauto mit Anhänger. Da ich auf Wunsch der Schwangeren Saure Eier gekocht und mitgebracht hatte, aßen wir noch gemeinsam im Speiseraum Abendbrot. Dieser war mit Geschirr, Mikrowelle, Wasserspender, Kaffeeautomat und gefülltem Getränke – Kühlschrank vorzüglich ausgestattet.
Als Notfall – Patientin muss meine Freundin nichts für ihre Behandlung oder das Essen bezahlen . Mit der Sozialversicherungsnummer kann jeder Däne kostenlos das Internet in der Klinik nutzen. Die Besucher können in einem extra Speiseraum Essen kaufen und hier mit ihren Angehörigen gemeinsam sitzen und sich wie im Restaurant fühlen.
Als wir uns verabschiedeten, wusste ich meine Freundin sehr gut aufgehoben. Die Hebammen und Krankenschwestern sprachen alle entweder deutsch oder englisch. Für meine Freundin war dies weniger wichtig, da sie des Dänischen mächtig ist. Aber für mich sollte es noch an Bedeutung gewinnen.
Am zweiten Besuchstag, eine knappe Woche vor dem geplanten Kaiserschnitt, teilte die Patientin mir freudig mit, dass sie zur Aktivierung ihres Kreislaufs heute zum Eis – Kiosk laufen würde. Hätte ihr die Hebamme empfohlen. Bevor wir starteten, wollten wir noch die Einkaufsliste für das Frühchen schreiben. Der zukünftige große Bruder spielte derweil friedlich in der Ecke.
Da entfuhr der werdenden Mama ein verstörter Seufzer und binnen Sekunden vergrößerte sich der tiefrote Kreis auf dem Bett. Die herbeigerufene Hebamme fragte auf den verzweifelten Ausruf „Ich blute!“ nur „Wo?“. Meine Gedanken überschlugen sich. Oh Gott, was ist mit dem Baby? Wo gehe ich jetzt schnell mit dem Vierjährigen hin? Ich muss den Papa anrufen! Wie zum Teufel kann meine Freundin jetzt so beherrscht bleiben, mit der Hebamme dänisch reden und ihren Sohn mit deutschen Worten beruhigen? In ihren Augen sehe ich aber sehr wohl die Panik, welche sie erfasst hat.
„Die Mama muss untersucht werden und wir beide gehen jetzt Eis essen.“ Diesen Vorschlag akzeptiert er sofort. Mit meiner EC-Karte zahle ich umgerechnet 4,50 € für zwei Wassereis. Draußen rufe ich den werdenden Papa an, der noch 300 km vor sich hat und sofort startet.
Zurück im Krankenzimmer treffen wir nur noch die Mitpatientin, welche mir auf Englisch sagt, dass das Handy am Bett geklingelt hat. Ich nehme es an mich und lasse den Vierjährigen auf dem Tablet Märchen spielen, während ich dem besorgten Papa eine SMS schreibe.
Die Hebamme teilt uns mit, dass sie in einer Stunde Neues wüsste und so gehen wir noch zum Spielplatz. Von dort zurück, möchte ich sie fragen, ob die Mama im Kreißsaal telefonieren kann und reiche ihr unsicher das Handy. Sie schüttelt den Kopf und schickt uns beide mit den Telefonen in ein Zimmer. Was ist das? Wir sind im Kreißsaal bei der Risiko-Schwangeren, die schon aller drei Minuten Wehen bekommt. Wir dürfen telefonieren, bekommen Stühle und Saft angeboten. Der Sohnemann freut sich über die ihm spendierte Schokolade und meine Freundin erklärt mir, dass sie ihr Mädchen auf natürlichem Wege bekommen möchte und zunächst kein Kaiserschnitt gemacht werden soll. Ich verspreche, bis zur Ankunft ihres Mannes dazubleiben. Gewissenhaft schaut der Junior auf die Messinstrumente und reicht seiner Mama zu Beginn jeder Wehe die Sauerstoffmaske. Während der nächsten Untersuchung gehe ich mit dem Jungen Abendbrot essen. Als wir zurück ins Zimmer kommen, ist der Papa da und die Wehen sind schon so heftig, dass es Zeit für uns ist, abzufahren und die Eltern allein zu lassen. Als ich den großen Bruder endlich schlafend im Bett habe, bekomme ich die erlösende Nachricht. Julia ist geboren. 47cm lang und fast zwei Kilo leicht. Der Notkaiserschnitt ließ sich nicht vermeiden, aber sie atmet selbstständig!
Am folgenden Tag kann ich meine Freundin voller Erleichterung in die Arme schließen. Die schlimmsten Befürchtungen sind vorüber. Das kleine Menschlein liegt auf der Intensivstation im Inkubator und bekommt Nahrung über eine Magensonde.
Als Nanny werde ich den großen Bruder unterhalten, während Papa und Mama bei ihrem Winzling sind. Falsch gedacht! Wer Hände wäscht und desinfiziert, darf reinkommen. Ich darf den neuen Erdenbürger sogar streicheln! Bruder und Schwester bekommen jeder ein Kuscheltier geschenkt. Die Hebammen und Schwestern sind entspannt. Keine Spur von Hektik, immer ein Lächeln im Gesicht. Steht einer von uns im Weg, gehen sie einfach drumherum. Big Brother spielt still neben Kabeln und Schläuchen, drückt auch mal die Knöpfe, um das Bett hoch- und runterzufahren. Der Papa füttert Muttermilch über die Sonde. Geduldig erklärt die Schwester, was dabei zu beachten ist. Sogar ich darf einmal Schwester spielen und füttern. So viel Vertrauen in die Patienten und Familien setzt man hier. Das ist eine gute Philosophie. Die Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind, deshalb werden sie in alles einbezogen. Wir dürfen die Mama im Bett von Station zu Station fahren. Der Papa darf die Milchpumpe holen, die Mama darf in Eigenverantwortung ihre Medikamente einnehmen und die Fieberkurve notieren. War etwas unklar, darf man jederzeit klingeln und nachfragen. Nie habe ich ein genervtes Gesicht erlebt. Keine Tür war verschlossen. Im Prinzip kann ich ohne Anmeldung von der Straße in jedes Zimmer gelangen. Da ich mit den Angehörigen kam, hat man Vertrauen. Ein weiterer Fakt wird der gute Patientenschlüssel sein. In Kolding arbeiten allein 90 Hebammen. Mutter und Kind werden bei einer Frühgeburt bis zum eigentlichen Geburtstermin im Krankenhaus weiterbetreut. Am Ende mutet es eher an wie ein Hotel, denn die letzten Nächte dürfen Geschwister mit im Zimmer der Mama übernachten. Das kostet den Staat natürlich eine Menge. Aber die Dänen haben ihre hohen Steuern hier vorzüglich investiert, finde ich.
An den nächsten beiden Besuchstagen war das Personal dann noch damit beschäftigt, der mitgebrachten Babypuppe des großen Bruders ebenfalls eine Magensonde zu legen, Spritze, Milchflasche und Klebeband zu schenken.o
Zu guter Letzt bot mir die Hebamme der ersten Stunde noch an, mein Busticket für die Heimreise auszudrucken, weil unser Drucker nicht funktionierte.
Nachdem ich zu Hause all die dänischen Wunder berichtet habe, meinte Willi:
Wird seine Gründe haben, warum die Dänen das glücklichste Volk sind…