Plötzlich war es da. Dieses neue Gefühl: Jetzt bin ich angekommen, nicht mehr fremd!
Letzten Sonntag, genau vier Wochen nach meiner Einreise, hat sich von einem Augenblick zum anderen alles viel einfacher angefühlt. Der Gang durch die bekannten Straßen, ein Plausch mit einer Missionarin vor der Kirche, die Gespräche mit zwei Markthändlern und die Fahrt im heißen Mikro.
Ohne Vorwarnung wurde mir klar: Du kannst dich ja jetzt unterhalten. Du kannst dich orientieren.
Wahrscheinlich ist es so, dass ich so lange neue spanische Wörter und Sätze in mir angehäuft habe, bis ich wie in einem Computerspiel das nächste Level erreicht habe.
Und ich muss sagen, das fühlt sich verdammt gut an.
Nicht nur „Guten Tag, Wie gehts, Ich spreche wenig Spanisch, Das verstehe ich nicht…“
Mit den Taxifahrern spreche ich darüber, dass die Kinder hier erst zu Hause ausziehen, wenn sie heiraten und eigene Familien gründen. Dass ein Autofahrer in Santa Cruz ringsum im Kopf Augen haben muss, denn der Verkehr kommt von allen Seiten.
Der Marktverkäufer erklärt mir das Rezept für Tamarindenlimonade, die Kunsthandwerkerin will mir bis nächsten Sonntag eine größere Tasche nähen, wo dann Handy und Brille hineinpassen.
In meiner ekelhaften WG-Küche mag ich nicht kochen und betrete die winzige Pizzeria im Nebenhaus. Dort Sitz nur Mozo, ein alter Mann mit schiefem Gebiss am Tisch, den ich kenne, weil er im gleichen Haus wohnt. Er freut sich immer, wenn ihn die „Alemana“, also ich, grüßt und ein paar Worte mit ihm wechselt. Nun bekommen wir gleichzeitig unserEssen, er fragt mich über meine Familie aus und schenkt mir immer mein Wasser nach. Am Ende besteht er darauf, mir mein Essen zu bezahlen. Am nächsten Morgen sieht er mich von seinem Balkon aus am Straßenrand, als ich aufs Taxi warte. Laut ruft er, wohin ich wolle, denn er würde mich fahren. Oh Schreck, das ist mir dann doch zu viel Nähe. Zum Glück kommt mein Taxi genau in dem Moment und ich kann dankend ablehnen.
Das wohl krasseste Gespräch ereilte mich jedoch auf der Ausländerbehörde (Imigration). Mein Tramitador (Bearbeiter) musste gemeinsam mit mir zwei Stunden warten. In dieser Zeit erfahre ich, dass am Morgen in seine Garage eingebrochen und das Auto geklaut wurde, dass er Höhenangst hat und deshalb nicht fliegen kann, dass er beim Anblick von schönen Frauen schmutzige Gedanken bekommt und zur geistigen Reinigung eine Bibel-Zitate-App nutzt, weil er diese Gedanken seiner Frau gegenüber nicht vertreten kann. Er demonstriert mir die App. Nur zwei Wörter kann ich auf Anhieb übersetzen: Sex und Pornografie…
Ich war ziemlich erleichtert, als die Wartezeit endlich herum war, auch wenn mein Visum trotz zwanzig Seiten Unterlagen plus Passfotos nicht verlängert wurde. Der Arbeitsvertrag sei nicht korrekt. Das heißt, ich hab am Montag 7:15 Uhr wieder das Vergnügen mit diesem älteren Herrn und der Behörde.
Ich sehe es gelassen als kostenlosen Spanischunterricht, denn er spricht kein Wort Deutsch.
Vielleicht versteht ihr nach diesen Beispielen, wie sich mein Lebensgefühl gewandelt hat. An die Stelle von Unsicherheit und Hilflosigkeit der ersten Wochen sind Erkenntnisse, Erfahrungen Neugier und Gelassenheit getreten.
Wenn ich mit dem Mikro zu weit fahre und mich verlaufe, finde ich zurück, denn ich kann fragen. Im dichtesten Verkehr schaffe ich es ohne Herzattacke über sechsspurige Straßen. Auf dem Markt diskutiere ich schon mal mit dem Verkäufer, wieso er für die Avocado den doppelten Preis verlangt.
Das fühlt sich alles so herrlich normal an.
Ich bin endlich angekommen.
Nach genau vier Wochen.
Verwandelt.