Die bolivianische Mentalität ist sehr schwer zu ergründen.
Genauso wie das Land von Extremen geprägt wird, erscheinen einige Verhaltensweisen der Bolivianer völlig entgegengesetzt. Vieles existiert nebeneinander:
Reichtum und Armut
Rücksichtnahme und Rücksichtslosigkeit
Sauberkeit und Umweltverschmutzung
Hilfsbereitschaft und Egoismus
Ehrlichkeit und Korruption
Chaos und Ordnung
Dafür möchte ich gern ein paar Beispiele erläutern.
Die Spanne zwischen Arm und Reich ist hier viel größer als in Deutschland. Die Marktfrau wäscht sich mit normaler Seife Haare und Gesicht. Papiertaschentücher, Küchenrolle, Deo oder Haarspülung kauft sie nie. Sie verkauft mir zwei Avocados für umgerechnet 25 Cent. Drei Ananas für 1,50 €. Ich bezahle für ein Einzimmerappartement im sichersten Viertel der Stadt ca. 400 €. Das sind deutsche Preise. Es gibt hier genug Bolivianer, die diese Preise zahlen können. Sie fahren SUV und ihre Kinder tragen in Klasse zwei eine Smartwatch.
In der Stadt versuchen viele Mütter mit Kindern, irgendetwas Kleines zu verkaufen. Sie sitzen in der Hitze am Boden auf Pappen, stillen ihr Kind, Löffeln Suppe aus Plastiktüten. Anfangs dachte ich jeden Morgen “die armen Kinder, so verwahrlost “. Inzwischen denke ich aber über die soziale Verwahrlosung von Kindern geschäftiger Eltern nach. Diese schmutzigen kleinen Kobolde hier werden den ganzen Tag umhegt und können jederzeit an Mamas Brust einschlafen. Die Geschwister sind füreinander verantwortlich. Sie würden den kleinen Bruder niemals auf die Straße ins Auto rennen lassen, wenn die Mama gerade erschöpft eingeschlafen ist. Es ist nicht ideal, zwischen
Straßenlärm und Abgasen aufzuwachsen. Aber im klinisch sauberen Einfamilienhaus ohne Zuwendung kann der Schaden für eine Kinderseele durchaus größer sein.
Es geht hier aber noch eine Stufe ärmer. Im Kanal in der Nähe der Schule leben die, die gar nichts haben, aber etwas vom Reichtum der Millionenstadt abbekommen wollen. Sie müssen betteln und stehlen. Man erkennt sie leicht. Ihre Haut- und Kleidungsfarbe ist graubraun, sie tragen keine Schuhe und riechen oft unerträglich. Sie haben den Rang von Ratten. Alle Gebäude ringsum sind von Mauern umgeben, Security sitzt davor und Stacheldraht windet sich unter den blühenden Ranken über den Toren. Auf den folgenden Fotos seht ihr Kanal und Reichenviertel. Es lohnt sich, die Ansichten mal ein wenig größer zu zoomen. Sonst sieht man die Sicherheitsvorkehrungen kaum.
Die Armut wird teilweise als gegeben hingenommen. Manche Frau wurde von Gott eben als Putzfrau erschaffen. Als ich meiner Mitbewohnerin sagte, ich fände es unangenehm, wenn eine Fremde für mich Bad und Zimmer reinige, meinte die Putzfrau, es wäre doch eine Ehre für sie, für eine Deutsche zu arbeiten! Viele bolivianische Kolleginnen finden es völlig normal, eine Emplejada (Angestellte) im Haus zu “besitzen”. Wir schaffen damit doch Arbeit.
Themenwechsel. Bestechung, Willkür. Ich habe drei erfolglose Anläufe unternommen, mein Visum zu verlängern. Jedes Mal fehlte ein Dokument, war nicht von der richtigen Person unterschrieben und am Ende war die Zeit überschritten und ich musste 35 € Strafe zahlen, weil mein Visum abgelaufen war. Letztendlich bin ich nach Peru ausgereist und als Tourist wieder eingereist, niemand wollte den Strafzettel sehen und ich bekam automatisch das Touristenvisum. Dann hab ich beim vierten Besuch der Migrationsbehörde einfach gelogen und gesagt, ich würde nicht mehr als Lehrerin hier arbeiten, sondern nur noch reisen. Hat funktioniert. Genauso, wie man sich ein Gesundheitszeugnis oder eine Fahrerlaubnis kaufen kann. Für andere Bolivianer steht Ehrlichkeit hoch im Kurs. Auf dem Markt ist es mir schon oft passiert, dass ich den Preis nicht genau verstanden und zuviel Geld gegeben habe, schon im Gehen war und die Verkäufer mir unbedingt das Rückgeld geben wollten.
Und während überall Müll herumliegt und alles in Plastiktüten verpackt wird, sind wir Deutsche hier die Exoten, wenn wir mit Stoffbeutel einkaufen. Doch einige Verkäufer lächeln bereits verständnisvoll und freuen sich. Die Müllsäcke stehen am Straßenrand, werden aber jeden Tag beräumt, weil es bei der Hitze und Luftfeuchtigkeit gar nicht anders ginge.
Mein erster Eindruck vom Straßenverkehr , bei dem es keine Regel gibt, außer das jeder auf sich selbst achtet, ist nicht ganz richtig. Zebrastreifen sind wirklich nur Dekoration und wer zuerst kommt oder am größten ist, fährt zuerst. Aber insgesamt sind alle viel aufmerksamer! Ich habe noch keinen einzigen Unfall gesehen. Hier wird gefahren, wo Platz ist und gehupt, wenn man als erster über die Kreuzung will. In den ersten Wochen habe ich vor Angst noch das Bodenblech im Taxi durchgetreten, jetzt finde ich es faszinierend, mit zwei Zentimeter Abstand am Bus vorbei zu jonglieren. Anschnallen ist nicht nötig, der Verkehr fließt nicht sehr schnell. Letzte Woche sind wir zu neunt in einem Kleinwagen gefahren, sechs Erwachsene und drei Kinder. Überhaupt kein Ding.
Es ist wie stets im Leben: Die absolute Wahrheit gibt es nicht und jedes Ding hat zwei Seiten.