Wenn Dinge im Vergleich zu Deutschland ganz verschieden sind, denke ich über meine Heimat, meine Familie, Freunde und die Arbeit besonders intensiv nach.
In den Herbstferien (ja, hier ist Herbst) waren wir zu dritt unterwegs. Zuerst im Hochland, eine knappe Stunde Flug nach Sucre, auch die weiße Stadt oder Stadt des ewigen Frühlings genannt.
Es folgen vier Stunden Busfahrt ins Dorf Alcala und eine Stunde Wanderung ins Nirgendwo.
2500m Höhe. Herrliche Bergwelt, ein Fluss, Sonne…
Mitten in den Bergen gibt es eine Schule, in der die Kinder der Indigenen bis zur vierten Klasse lernen können. Sie laufen bei Wind und Wetter eine Stunde oder mehr, um in zwei Klassenräumen die
grundlegenden Dinge zu lernen: lesen, schreiben, rechnen. Nachmittags arbeiten sie auf den Feldern oder hüten Vieh.
grundlegenden Dinge zu lernen: lesen, schreiben, rechnen. Nachmittags arbeiten sie auf den Feldern oder hüten Vieh.
Kinderarbeit ist hier legal. Wenige von Ihnen gehen nach der Vierten auf eine weiterführende Schule.
In der Schule unterrichtet ein Ehepaar. Alle Klassenstufen gleichzeitig. Elektrizität gibt es noch nicht. Wir hatten Sonnenschein, aber ohne diesen ist es drinnen ganz schön dunkel und im Winter kalt. Die Gebäude haben keine Fensterscheiben. Gekocht wird auf offenem Feuer. Draußen auf der Stufe sitzend wird gegessen.
In der Pause spielen die Jungs mit fünf Glasmurmeln, die Mädchen klettern in ihren Baum und kochen für ihre Puppen Milchreis aus Kreide und Sand.
Sie sind nicht unglücklich, aber sie wissen schon viel vom Leben.
Ein kleiner Junge repariert gerade fachmännisch seine Sandale. Sie können allein Feuer machen, kochen, mit einem Stein Kartoffeln schälen, Hühner rupfen oder auf das Baby aufpassen. Es sind Grundschüler.
Viele schauen sehr ernst auf den Fotos.
Die zwei Enten sind ein Geschenk für alle zum Kindertag. Nicht zum Streicheln, sondern für die Suppe. Das Essen wird durch Spenden finanziert. Es gibt Maissuppe zum Frühstück und Suppe aus Reis, Linsen und Kartoffeln zu Mittag. Beides schmeckt sehr gut.
Nach anfänglicher Scheu lesen sie mit uns, schreiben und zeichnen Comicfiguren mit mir.
Das ist gar nicht so anders als in Dresden.
Der Lehrer wünscht sich ein gemeinsames Foto von uns.
Zum Abschied spendiert er uns Gästen pinkfarbene Fanta. Das ist ein surrealer Moment, als ein paar Kinder auf das magische Zuckerwasser schauen. Coca Cola ist ein Stück vom vermeintlichen Reichtum der westlichen Welt. Alle drei halten wir den Kindern unsere Gläser zum Kosten hin. Sie trinken nur wenig und ich weiß nicht, ob es ihnen nicht schmeckt oder ob das aus Höflichkeit geschieht. Ich trinke aus Höflichkeit die Fanta aus und hätte hier aus Höflichkeit auch Fleisch gegessen. Weil ich niemandem hätte erklären können,
dass ich mir aussuchen kann, was ich essen möchte und deshalb Vegetarier bin.
dass ich mir aussuchen kann, was ich essen möchte und deshalb Vegetarier bin.
Als ich auf der Rückreise frierend im klapprigen Bus sitze, muss ich unentwegt an all die Geschichten denken, die mir Sophie unterwegs über das Leben hier erzählt hat. Sie hat vor sieben Jahren ein Jahr als Freiwillige die Schule mit aufgebaut. Damit die Kinder überhaupt zur Schule gehen können. Damit sie rechnen können und auf dem Markt nicht betrogen werden. Damit sie nicht mit zehn Jahren für immer die Schule verlassen. Damit das eine oder andere Mädchen
vielleicht nicht mit 14 erstmals Mutter wird, um dann lebenslang weitere Kinder zu bekommen und Feldarbeit zu verrichten.
vielleicht nicht mit 14 erstmals Mutter wird, um dann lebenslang weitere Kinder zu bekommen und Feldarbeit zu verrichten.
Wenn es regnet, sind Fluss und Wege unpassierbar, Schule fällt aus. Wenn Trockenzeit ist, fehlt das Wasser für die Pflanzen und zum Kochen. Ohne Essen keine Schule. Durch die unverputzten Lehmwände der Behausungen kommen Wanzen, die beißen und eine unheilbare Krankheit (Chagas) übertragen. Daran stirbt man irgendwann, weil das Herz aussetzt.
Der Rauch vom Kochen mit offenem Feuer im Haus schadet den
Augen, was man den Menschen auch ansieht. In der Pampa gibt es keinen Arzt. Auch keinen Zahnarzt. Irgendwann ist man alt und eben zahnlos. Oder gerade zwanzig und schon ohne Schneidezähne. Hier stört sich keiner am Anblick solcher Menschen.
Augen, was man den Menschen auch ansieht. In der Pampa gibt es keinen Arzt. Auch keinen Zahnarzt. Irgendwann ist man alt und eben zahnlos. Oder gerade zwanzig und schon ohne Schneidezähne. Hier stört sich keiner am Anblick solcher Menschen.
Die Sechsjährige, die sich am Vormittag an uns klammert, kuschelte und fasziniert meine hellen Haare befühlt, ist ein kluges Kind. Sie fragt mich, wie viele Schüler in meine Klasse gehen. In jedem Buch, was wir gemeinsam anschauen, zählt sie ganz ernsthaft die Personen. Wie wird wohl ihr Lebensweg aussehen?
Jedenfalls sitze ich im Bus, draußen strahlend blauer Himmel über einer wunderbaren Landschaft.
Drinnen schlafen die Leute in Decken gehüllt und der typische Geruch nach Rauch und Koka und muffiger Kleidung umgibt mich. Ein Floh springt auf meinen Handrücken, durch das scheppernde Schiebefenster neben mir zieht ein kalter Luftzug.
Ich töte panisch den Floh und möchte meine Kleidung ausschütteln, vom Sitz aufstehen und sofort duschen. Aber noch vier Stunden Busfahrt. Ohne Toilette. Okay, ablenken….
Da bin ich in Gedanken wieder im Dorf und muss plötzlich hemmungslos weinen.
Wahrscheinlich gar nicht, weil mir die Kinder
leid tun. Mir wird bewusst, wie ungerecht die Welt ist und dass ich für das Privileg, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, nichts tun musste.
Das Glück war einfach auf meiner Seite:
Gesundheit, Bildung, Reisefreiheit, warmes Wasser, Heizung, neue
Kleidung….
Kleidung….
Die Liste ist endlos.
Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt.
Ein paar Tage später erkunden wir Buenos Aires und Montevideo, stoßen auf der Dachterrasse des Hostels mit dem Begrüßungsdrink an und kaufen ein paar Souvenirs.
Ob die Kinder aus der Dorfschule das Wort Souvenir überhaupt kennen? Wenn man nie verreist, bringt man auch keine Andenken mit.
Wir genießen die Radtour mit den Schrotträdern am Meer, den Flug, das gute Essen.
Wir fühlen uns wohl im Schlafraum mit anderen Reisenden.
Wir leben nicht verschwenderisch, aber wir haben in einer Woche extreme Unterschiede erlebt.
Wir wissen das Alles schon lange aus Nachrichten und Reportagen.
Trotzdem ist es ganz anders, plötzlich mittendrin zu sein.
Dort, wohin sich kein Tourist verirrt.
Wenn ich mich in Zukunft doch mal wieder über meine Arbeit, die verspätete Bahn, das Wetter, die Steuererklärung oder die Falten im Gesicht aufregen möchte, so hoffe ich sehr, dass mich die Bilder aus dem Hochland ganz schnell daran erinnern:
Alles Luxusprobleme! Weniger Ansprüche und viel mehr Dankbarkeit!