Keine Reise ist möglich, ohne neue Menschen kennenzulernen. Damit man sich in einer neuen Umgebung zurechtfindet, verfällt man schnell in das Muster des Kategorisierens. Man teilt ein und sortiert in Schubladen. So erging es natürlich auch mir. Direkt nach meiner Anreise gab es zwei: Bolivianer und Deutsche. Ich kannte genau zwei Personen persönlich. Die Schulleiterin der Deutschen Schule, welche ich vor einem Jahr auf der Messe in Hannover kennengelernt hatte und eine Medizinstudentin, mit der ich ab Düsseldorf bis Santa Cruz geflogen war.
Zwei Wochen später habe ich in den Schubladen nochmal extra Stapel gebildet. Die Deutschen konnte ich nun sortieren nach: Lehrer, Eltern, sonstige Auswanderer, Touristen. Bolivianer teilte ich ein in: Zuwanderer, Indigene, Arme und Reiche.
Das funktionierte nicht lange, dann fing ich an, die deutschen Lehrer zu differenzieren. Gut ausgebildete Deutsche, Ossis und Wessis, fleißige und bequeme, engagierte und verzagte, ewige Meckerer, Teamplayer, Einzelgänger, Absolventen und alte Hasen. Mit den bolivianischen Lehrkräften erging es mir ähnlich. Gut ausgebildete, engagierte arbeiteten neben wirklich unfähigen+unmotivierten oder unfähigen+liebevollen. Oder deutsch sprechende (vermeintliche) Bolivianer, die aus Chile, Peru, Argentinien und Paraguay kamen. Der Dschungel meines Kabinettschrankes mit -zig Fächern wurde immer verzweigter und undurchdringlicher. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt nur in der Millionenstadt gearbeitet und war noch nicht durchs Land gereist.
An dieser Stelle ein Dankeschön an Christiane, Jule und Sophie, die mir einige ihrer Fotos zur Verfügung stellten.
Beim Reisen formierten sich wiederum ganz andere Menschengruppen, wie Marktfrauen, Busfahrer, Taxifahrer, Hotelbetreiber, Bettler und andere.
Zurück in Deutschland bekomme ich mehrfach die Fragen gestellt: Was ist das Typische an den Menschen dort gewesen? Was sind die Unterschiede zu uns? Die Antwort ist wirklich schwer. Ich habe sie jetzt über einen Monat hinausgezögert, um die vielen Erlebnisse und Eindrücke mit etwas Abstand aus der Ferne betrachten zu können.
Meine kurze Antwort lautet: Die Menschen in Bolivien sind sehr freundlich, duldsam, mitfühlend, verantwortungsvoll, familienorientiert.
Eine der zahlreichen längeren Antworten fand ich bei einer Radtour in die Dresdner Innenstadt. Die Deutschen stehen an der roten Fußgängerampel, obwohl kein Fahrzeug kommt. In meinem bolivianischen Nachklang schiebe ich das Rad über die freie Straße und ignoriere die Farbe. An den Straßenbahnschienen ist die Ampel aus, ich schaue nach rechts, sehe eine abbiegende Bahn kommen und warte. Die Menschentraube hinter mir hat inzwischen Grün und läuft gedankenverloren weiter. Die herannahende Bahn klingelt Sturm, die Leute springen erschrocken beiseite. Das Fazit dieser Episode ist meine Erkenntnis, dass der chaotische bolivianische Verkehr, dem ich anfangs voller Angst begegnet bin, sich nach Monaten intensiven Erlebens als ziemlich ungefährlich herausstellte. Jeder Teilnehmer übernimmt die Verantwortung für sich selbst. Niemand verlässt sich auf ein imaginäres Recht. Zebrastreifen sind Dekoration, Ampeln können hilfreich sein. Wo Platz ist, wird gefahren. Wo man aussteigen will, hält der Bus. Und wenn es zwischen dritter und vierter Spur oder auf einer Kreuzung ist. Wenn neun Personen in einen Kleinwagen passen, dann lässt man keinen am Straßenrand stehen. Völlig egal, ob ich dann mit dem 200-Kilo-Taxifahrer auf dem provisorischen Mittelsitz eine Stunde Körperkontakt habe, ein schlafendes Kind drei Stunden auf dem Schoß oder mal fünfzehn Minuten auf einer Arschbacke sitzen muss, damit der Fahrer die Gänge schalten kann, die sich unter meinem linken Oberschenkel befinden. Nur zur Untermalung eurer Vorstellung noch die Ergänzungen, dass hier meist dreißig Grad, bis zu neunzig Prozent Luftfeuchte und keine Klimaanlagen in den Fahrzeugen sind. Dafür dann eher fehlende Kopfstützen und gesprungene Frontscheiben. Bolivianer sind da pragmatisch und es würde uns komfortgewöhnten Individuen guttun, ab und zu mal ein paar Stufen hinabzusteigen. Duldsamkeit finde ich in solchen Dingen angebracht, wenn das wesentliche Ziel erreicht wird.
Die Schattenseite dieser einerseits lobenswerten Eigenschaft musste ich auch erleben. Immer, wenn der Umwelt Schäden zugefügt wurden und mit stoischer Gleichgültigkeit beispielsweise Hühner in fürchterlicher Käfighaltung dahinvegetierten oder die junge Mutter im Taxi die Getränkeverpackung einfach aus dem Busfenster warf, war ich schockiert. Aber kein Land, schon gar nicht das ärmste Lateinamerikas, überspringt die Phasen, bis sich ein Gesundheits- und Umweltbewusstsein entwickelt. Anfänge und Aktivisten gibt es schon, touristisch erschlossene Orte mit Mülltrennung und Verkäufer, die wissend lächeln, wenn ich den Stoffbeutel heraushole.
Zum Schluss möchte ich euch aus der bunten Mischung meiner Bekanntschaften und Freundschaften ein paar ausgewählte vorstellen. Hier zuerst alle Porträts zum Anschauen. Am Ende des Posts könnt ihr Kurzbeschreibungen dazu lesen. Allerdings völlig ungeordnet! Das ist Absicht, denn so könnt ihr beim Betrachten schon einmal vorsortieren. Es gibt keine Auflösung, doch einige meiner vorangegangenen Berichte sind sicher hilfreich. Viel Vergnügen!
Die Personen auf den Fotos sind:
eine bescheidene und weltoffene Kunstlehrerin, die sich am Ende unserer Zusammenarbeit als hochdotierte und begabte Künstlerin herausstellte / eine junge Lehrerin, die ein Schulprojekt in Vietnam unterstützt und ihre Freitagsstunde stets mit dem Klassenruf „hoch die Hände, Wochenende“ schloss / ein kunstinteressierter Programmierer aus Kanada, mit bolivianischen Wurzeln / eine mit einem Schweizer verheiratete , sozial engagierte Bolivianerin, die wunderbar kocht und tanzt / eine junge Lehrerin, von der ich viel Spanisch lernte und die sich wie eine Mama um mich sorgte, obwohl ich ihre Mutter hätte sein können / eine junge Mama, die sonntags mit ihren Kindern die Busfahrt ihres Mannes begleitete, ihr Kind stillte und verliebte Blicke tauschte / eine Mamita, die uns heißen Tee kochte und verriet, dass sie sich noch nie im Leben ihre Haare abgeschnitten hat / eine junge Ärztin, die während ihres einjährigen Praktikums in der Klinik nur fünf Tage Urlaub bekommt / eine erfahrene junge Lehrerin, die die wuseligen bolivianischen Grundschüler nach ihrer vorherigen Tätigkeit an einer Berliner Brennpunktschule mit Freude unterrichtet / ein besessener Naturliebhaber aus Bayern, der fast 30 Jahre damit verbrachte, in Bolivien seinen eigenen Urwald zu pflanzen und zu hegen / eine indigene Dorfbewohnerin, die uns Textilien verkaufen wollte, aber weder Spanisch noch Deutsch verstand